Entfallen: Die Introspektion im Spiegel des Anderen

Wir stehen unter steter Selbstbeobachtung. Wir fragen uns nicht nur beständig wer wir sind, wer wir waren und ob wir der bleiben, der wir glauben im Moment zu sein, sondern die Basis, aufgrund der wir uns Fragen unseres Selbst betreffend stellen, überhaupt eine Notwendigkeit dazu sehen, ist unser Verhalten in der Interaktion mit anderen. Die Reaktionen des anderen beobachten wir genau, ob bewusst oder unbewusst, wenn wir mit ihm interagieren. Dabei nehmen wir nicht nur die gesprochene Sprache, deren Tonhöhe, Sprachgeschwindigkeit und Bedeutungsinhalte wahr, wir beobachten insbesondere auch die Körpersprache, Gestik und Mimik, unseres Gegenübers und leiten aus dieser ab, ob unser Gegenüber uns grundsätzlich positiv oder negativ zugewandt ist, wie er situativ auf das reagiert, was wir ihm wiederum mit unserer Gestik, Mimik und gesprochenen Sprache mitteilen. Woraufhin wir unser Verhalten ihm gegenüber wieder korrigieren, anpassen, beibehalten, unmittelbar reagieren. Niklas Luhmann sprach hier (in Bezug auf die Komplexitätsreduktion sozialer Syseme) von Erwartungs-Erwartungen. Wir reagieren in der sozialen Interaktion so, wie wir meinen, das der andere es von uns erwartet, während der andere genau dasselbe macht, die Erwartungskette lässt sich dann ins unermessliche steigern: Erwartungs-Erwartungs-Erwartungs-Erwartung-…Erwartungen. Sie bilden eine grundlegende Voraussetzung für soziale Interaktionen und verlässliche soziale Beziehungen, ihre Systematik ermöglicht Vertrauen im Umgang mit anderen und, in breiteren Dimensionen gedacht, Vertrauen in größere soziale Zusammenhänge, Familie, Freundeskreis, Kollegium, die Gesellschaft als Konglomerat von nur sehr wenigen Bekannten und einer Masse an Unbekannten, mit deren Verhaltenskonformität man zumindest im Mittel, aufgrund der erlernten Struktur der sozialen Interaktion, rechnet.

Wir selbst definieren und entwickeln uns als Persönlichkeiten immer nur im Gegenüber, denn eine Person wird erst zur Persönlichkeit erhoben, wenn sie bestimmte individuelle Eigenschaften entwickelt von denen man sagt, dass diese ihren Charakter vom Charakter anderer unterscheiden. Begegnen sich dann zwei Persönlichkeiten und stellen fest, dass sie bestimmte dieser individuellen Eigenschaften teilen, freuen sie sich und können in eine entspanntere vertrautere Interaktion eintreten, die von nun an aber nicht nur davon bestimmt ist, nach weiteren Gemeinsamkeiten zu suchen, sondern wesentlich für den Erhalt der Persönlichkeit ist die Identifizierung von Unterschieden, beides lässt die Persönlichkeiten zugleich vertrauensvoll und gestärkt aus der Interaktion gehen, wenn sie ausgewogen abläuft.

Auf einmal kommt eine Pandemie und sprengt dieses System der Vertrautheit der doppelten Kontingez. Wir ziehen uns zurück, weichen dem anderen aus, halten Abstand, verschleiern uns, verstecken unseren Körper hinter Kameralinsen, die Biologie der sozialen Begegnung wird unterbrochen. Das gewohnte Beobachten von Körpersprache, das Wahrnehmen von Gestik, Mimik, der Stimme des anderen wird gebrochen oder verzerrt. Die Kameralinsen brechen unseren Blick. Anstatt dem anderen in die Augen zu sehen, blicken wir an ihm vorbei, beobachten vielleicht sogar das kleine Abbild, das auf dem Bildschirm von uns selbst eingeblendet wird häufiger als das des anderen, denn unser eigenes Bild scheint uns momentan vertrauter zu sein. Begegnen wir uns mit Masken, versuchen wir aus den Augen des anderen zu lesen, doch wir sind es nicht gewohnt uns allzu lange in die Augen zu starren, sind sie nicht nur das Fenster eines uns nie vollständig zu entschlüsselnden anderen Selbst, sondern auch der Spiegel zu unserem eigenen sich fortwährend hinterfragenden und entwickelnden Selbst. Im Moment sind wir beides gleichsam: auf uns selbst zurückgeworfen, aber entkoppelt vom vollständigen gewohnten Zugang zum anderen, der unser selbst erst hervorbringt und definiert. Unsere derzeitige Introspektion kann uns also nur ein verzerrtes, gebrochenes unvollständiges Bild unseres Selbst liefern, Persönlichkeiten drohen zu entfallen.

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