Entfallen: Vernunft und Mitgefühl in Zeiten der Flüchtlingsbewegung

Die heute-Nachrichten des gestrigen Abends (29.10.2015) zeigten sterbende Kinder. Hektisch versuchten verzweifelte Helfer den Kindern lebensspendenden Atem einzuhauchen. Die sterbenden Kinder gehörten zu Flüchtlingsfamilien, die aus Syrien quer durch die Türkei reisten, nur um in einer schmalen Meerenge zu kentern, zu ertrinken und zu erfrieren. Und das nachdem die Familien ihre letzten Kräfte und ihr letztes Geld mobilisierten, um vom Sterben zu fliehen. Das Sterben, das seit Jahren durch Assads Truppen, den IS und durch die militärischen Interventionen Russlands, die diplomatischen Fehlversuche der USA und auch durch vergangenen Waffenlieferungen der Europäer in Krisenregionen über das Heimatland der Flüchtlinge einbrach. Wer es über die Meerenge oder über einen anderen Weg schafft, bis hin in das – bisher als frei geltende – Europa, vor Angst, Schrecken und Tod zu fliehen, der hat einen langen mühsamen Weg hinter sich gebracht. Diesen Weg tritt er sicher nicht an, weil er in irgendeiner staubigen wasser- und nahrungslosen Zeltstadt an den Rändern der zerbombten Städte sitzt und von einem Leben in Saus und Braus träumt. Von einem zweistöckigen Eigenheim mit einem Garten, der so groß ist, dass vielleicht sogar ein Pool hineinpasst. Und natürlich träumt er auch nicht von einer Garageneinfahrt vor dem Haus, in dem der nigelnagelneue Mercedes Benz in der Sonne glitzert. Und das Beste an dem Traum ist auch sicher nicht, dass man das alles haben kann, ohne auch nur einen Finger krumm zu machen. Blödsinn, natürlich denkt so niemand der Kriegsflüchtlinge. Diese wollen nur Schutz, Sicherheit, Wärme und Nahrung. Grundbedürfnisse, die laut UN-Menschenrechtskonventionen jedem Menschen unabhängig von seiner Herkunft unhinterfragt zustehen. Denen, die schon da sind ebenso wie denen, die noch kommen werden. Und wer dieses in Frage stellt, wer behauptet, Flüchtlinge träumen von unserem Reichtum, von einem Leben in Arbeitslosigkeit mit Frühstücksfernsehen und Nachmittagssoap oder von einem Arbeitsplatz als Putzhilfe, der eigentlich einem gebürtig deutschen Fachmann rechtmäßig zustünde oder wer sogar behauptet Kriegsflüchtlinge würden uns die Arbeitsplätze wegnehmen, von denen wir angeblich zu wenige haben oder wer behauptet Kriegsflüchtlinge würden unsere Kultur untergraben, womöglich das Christentum gewaltsam abschaffen, Frauen in Burkas zwingen, sie vergewaltigen, wenn sie sich weigern, als Amtssprache arabisch einführen … Wer so etwas behauptet, der macht vor allem eines: er lügt schlichtweg. Er lügt, weil er uninformiert ist. Er steckt seine ganze Energie lieber ins Nachbeten rechtspopulistischer Parolen und rennt blind kopflosen Menschen hinterher, die Flüchtlinge in Auffanglagern konzentrieren wollen und die Regierungsmitglieder an den Galgen hängen, weil dies einfacher ist, als ihnen zuzuhören und sich mit ihrer Politik auseinanderzusetzen. Und weil er so uninformiert ist, dass er lügen muss, hat er angst. Angst, dass die Wahrheit auf ihn hereinbricht und er sie nicht richtig einordnen und verarbeiten kann. Also überträgt er seine Angst auf diejenigen die angeblich so ganz anders sind als er. Diejenigen, die ihm sein Gefühl von Heimat, so heißt es, stehlen wollen und seine hart erarbeiteten Anrechte , die im Grunde auf einem Geburtsrecht beruhen, angeblich bedrohen. Und wäre das nicht sowieso schon alles schlimm genug, kommt nun noch hinzu, dass die momentane Entwicklung ein historisches Déjà-vu-Gefühl hervorruft. Vor etwa 80 Jahren wurde ebenso ein Feindbild wie heute erfunden, das egomane sich ganz persönlich benachteiligt fühlende Menschen ausnutzten, um sich im Machtgefüge der Gesellschaft nach ganz oben zu lügen, folge war ein Genozid und Krieg und Massensterben und ein Auseinanderrücken der westlichen Welt über viele Jahrzehnte. Und heute? Heute haben wir Aufmärsche von vernunftverlassen, nur noch für die eigene, in Angstspiralen verhaftete, Situation mitfühlenden Massen und von einzelnen vom Leben irgendwie enttäuschten Egomanen, die unter dem Deckmantel einer rechtmäßig gegründeten politischen Partei die Uninformierten durch leicht verständliche Fehlinformationen mitreißt, um sich selbst emporzuhieven. Und wir haben Menschen, deren unbegründete Angst sich so tief verwurzelt hat, dass sie nicht mehr als blanken Hass und Wut empfinden. Und wir haben Menschen, die kleine Kinder aus Flüchtlingsheimen entführen, um sie still und heimlich zu vergewaltigen und zu ermorden.

Ein Kommentar zu “Entfallen: Vernunft und Mitgefühl in Zeiten der Flüchtlingsbewegung

  1. Hey, so was würde ich in diesen Zeiten gern öfter lesen: ein Text mit Verstand und Herz verfasst. Zeiten wie diese sind Zeiten in denen ausgerechnet der braune Pegida-Mob ausgerechnet diesen Bundesjustizminister mit Goebbels vergleicht. Das sind Zeiten, in denen prügelnde Massen über Flüchtlinge herfallen und sie halb tot prügeln. Zeiten in denen Brandsätze auf bewohnte Häuser geworfen werden.

    Tatsächlich, er war noch fruchtbar dieser Schoß, aus dem sie nun wieder gekrochen kommen.

    Zeiten wie diese verlangen ein klares Bekenntnis dazu: which side are you on? Deshalb:
    – Flüchtlinge sind willkommen.
    – Keine Zäune und keine Lager an den Grenzen.

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